Im ersten Beitrag habe ich geschrieben, dass es wenig bringt, in den Geisteswissenschaften seitenweise Bücher auswendig zu lernen. Nur, was macht man dann? In jeder Geisteswissenschaft wird viel darüber nachgedacht, welche Methoden wozu geeignet sind.
Es gibt den Spruch: „Die Naturwissenschaften sagen, was man tun kann, die Geisteswissenschaften, ob man es tun soll.“ An diesem Spruch ist etwas wahres dran, denn in den Geisteswissenschaften gibt es Theoretiker, die sich mit den Methoden in ihrem Fach beschäftigen. Es gibt beispielsweise verschiedene Arten, einen Text zu analysieren. Ich könnte ein Computerprogramm über einen Kafkatext laufen lassen, um festzustellen, welche Pronomen er am häufigsten verwendet und auf wen oder was sie verweisen. Oder ich könnte versuchen, aus dem Text etwas über seine Person herauszulesen. Oder ich könnte einfach nur die Beziehungen der Personen untereinander analysieren. Oder, oder, oder,…
Wie man in den Beispielen sieht, ist nicht jeder Textzugang sinnvoll. Was will ich zum Beispiel aus der Erkenntnis ableiten, dass die Pronomen häufiger auf einen Mann als auf eine Frau referenzieren? Dass Kafka Frauen hasst? Oder dass es im Text einen Protagonisten (und keine Protagonistin) gibt? Wobei ich das Geschlecht der Hauptfigur auch auf einem Liegestuhl liegend, mit einem Eiskaffee in der einen und einem Keks in der anderen Hand und mit einigermassen guten Deutschkenntnissen sehr viel einfacher und gemütlicher bestimmen kann.
Man sieht also, dass es viele Methoden gibt, aber nicht immer alle Sinn machen. Grundsätzlich hat jede Methode ihre blinden Flecken und kann dementsprechend auch kritisiert werden. Und um genau dieses Thema ging es kürzlich in einer Stunde.
Als Vorbereitung mussten wir einen Text lesen, bei dem es dem Autor nach darum ging, verschiedene Methoden vorzustellen. Hintergründig schien der Text aber mehr darauf abzuzielen, die Vorzüge einer Methode hervorzuheben. Es war ziemlich leicht zu merken, weil bei jeder anderen Methode genau zwei (berechtigte) Kritikpunkte auftauchten. Nur bei der Letzten wurde gesagt, dass sie zwar sicher nicht für alles geeignet sei, aber konkrete Überlegungen zu den Schwachstellen gab es nicht.
Am Anfang der Stunde fragte die Dozentin, ob wir Themenwünsche hätten. Ich brachte dann die fehlenden Nachteile ins Spiel. Danach gingen wir den Text Schritt für Schritt durch, und als wir bei der letzten Methode waren, fragte mich ein Mitstudent: „Wo genau siehst Du denn da Kritikpunkte? Ich finde, die Methode deckt so ziemlich alles ab.“ Ich antwortete dann noch etwas methodenspezifisches, aber leider war in dieser Woche so viel los, dass ich es gerade noch geschafft hatte, den Text fertig zu lesen. Dementsprechend konnte ich auch nicht wirklich fundamentale Kritik anbringen. Aber, wie ich später dann erklärte, ging es mir eher ums Prinzip.
Ich habe ja geschrieben, dass jede Methode ihre Nachteile hätte. Im Umkehrschluss gibt es demnach keine perfekte Methode. Dementsprechend lohnt es sich also, gezielt nach Schwachstellen zu fragen, und zwar, bevor man die Methode anwendet (und viel Zeit damit verschwendet, zu begreifen, dass man gerade Schwachsinn produziert). Also ist mein erster Reflex in diesem Fall, nach dem Haken zu fragen. Genauso, wie ich bei einem „Allheilmittel“ als erstes nach der Wirksamkeit frage.
Ich denke, das ist einer der wichtigsten Punkte in einem geisteswissenschaftlichen Studium. Man soll/darf/muss Behauptungen, Meinungen, Versprechungen kritisch hinterfragen. Die grössten Querdenker schaffen es in die Geschichtsbücher. Was mich daran errinnert, dass ich vielleicht mal eine Serie über die bekanntesten Literaturtheoretiker starten könnte. Deren Lebensgeschichten sind meist genauso lesenswert wie ihre theoretischen Texte.